Rede auf der Gedenkkundgebung für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.25 (2)
Liebe Genoss:innen,
wir möchten heute auch den vom NS-Regime verfolgten und ermordeten Sinti und Roma gedenken. Die Diskriminierung der Sinti und Roma begann in Deutschland lange vor der NS-Herrschaft: So gab es bereits 1871 Erlasse und Verordnungen, die Sinti und Roma in die Sesshaftigkeit zwingen sollten. Auch in der Weimarer Republik waren sie zahlreichen antiziganistischen Gesetzgebungen ausgesetzt, wie u. a. einer Sonderausweispflicht.
Mit den Nürnberger Gesetzen 1935 radikalisierte der NS-Staat die Verfolgung und Ausgrenzung der Sinti und Roma in Deutschland und verankerte gesetzlich die Verfolgung der Sinti und Roma als sogenannte „artfremde Rasse“. Nach den „rassenhygienischen“ Vorstellungen der Nazis galten sie als sog. Asoziale und wurden aufgrund der rassistischen Vorstellungen der Nationalsozialisten zahlreich Opfer von Zwangssterilisationen, die im Zuge der „Gesetzte zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ab 1933 implementiert wurden. Zudem wurde Kindern der Schulunterricht verboten und Zwangsscheidungen und Eheverbote durchgesetzt.
Ab 1935 wurde begonnen, Sinti und Roma in umzäunten Lagern einzusperren und mit dem „Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung durch die Polizei“ wurde vom NS-Staat Möglichkeit geschaffen, Sinti und Roma unbefristet in Konzentrationslager zu verschleppen. Mit dem sogenannten Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 ordnete Heinrich Himmler dann die Deportation der europäischen Sinti und Roma ins Vernichtungslager Auschwitz an. Am Ende ermordeten die Nazis weit über 200.000 Sinti und Roma.
Doch auch nach dem Ende des 2. Weltkriegs hatte die Diskriminierung der Sinti und Roma in Deutschland kein Ende: Nach der Niederlage Nazideutschlands verwehrte die BRD als Nachfolgestaat stattdessen die Anerkennung der Sinti und Roma als rassistisch verfolgte Minderheit und lehnte Entschädigungszahlung an die Betroffenen ab.
Um möglichst wenig Zahlungen an die Opfer leisten zu müssen, bediente sich der deutsche Staat selbst der Argumentation der Nationalsozialisten: In den 1954/1955 veröffentlichten Kommentaren zum „Bundesentschädigungsgesetz“ (BEG) wurden alle Verfolgungsmaßnahmen aus der Zeit vor März 1943 als legitime Sicherheitsmaßnahmen interpretiert, da die „eigenen Eigenschaften“der Sinti und Roma.wie „Asozialität“, Kriminalität und „Wandertrieb“ ihre Bekämpfung veranlasst hätten. Außerdem wurden Ausgebürgerten eine Wiederanerkennung der Staatsbürgerschaft verwehrt. Der Bundesgerichtshof rechtfertigte in seinem Grundsatzurteil also nicht nur den hunderttausendfachen Mord an europäischen Sinti und Roma, sondern spuckte den Überlebenden und Hinterbliebenen förmlich ins Gesicht.
Dass die weiter anhaltende staatliche Diskriminierung ab Mitte der 60er Jahre weniger wurde, nutzte den Opfern freilich wenig. Denn erstens waren zu diesem Zeitpunkt viele Entschädigungsverfahren bereits abgeschlossen und des Weiteren versuchte der deutsche Staat immer noch absichtlich juristische Hürden aufzustellen, um eine Anerkennung der Sinti und Roma als Opfer des NS-Terrors aufzuhalten. Auch die Solidarität der deutschen Bevölkerung blieb wie in den Jahren der NS-Herrschaft aus, und Sinti und Roma blieben mit ihrem Kampf um Gerechtigkeit weitgehend allein.
Am Karfreitag des Jahres 1980 traten 12 Sinti, unter ihnen die Holocaust-Überlebenden Jakob Bamberger, Hans Braun, Ranco Brandtner und Franz Wirbel in der evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau in einen Hungerstreik, um für die Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma zu streiten. Eine weitere zentrale Forderung war die Herausgabe ehemaliger NS-Akten zur Sondererfassung von Sinti und Roma, die von der bayerischen Polizei weiterbenutzt wurden. Diese Akten enthielten unter anderem Namen, persönliche Daten und Fingerabdrücke ehemaliger Inhaftierter und Verfolger, womit die bayerische Polizei also Nazi-Listen munter weiterführte.
Diese Aktion führte dazu, dass das erste Mal eine breitere Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit der Verfolgung der Sinti und Roma stattfand. Der Hungerstreik war erfolgreich und nach 8 Tagen wurden die Akten, im Zuge des öffentlichen Drucks, vom bayerischen Landeskriminalamt an das Bundesarchiv übergeben und die bayerische Regierung gab zu, dass es ein Problem mit Diskriminierung gebe und man was dagegen tun müsse. Zwei Jahre später wurde der Völkermord an den Sinti und Roma vom damaligen Bundeskanzler, nach über 35 Jahren Schikane und weiterer Diskriminierung und Verfolgung anerkannt. Im selben Jahr wurde ebenfalls der Zentralrat der Sinti und Roma gegründet und Romani Rose, einer der Streikenden, ist bis heute Vorsitzender.
Antiziganistische Ressentiments ziehen sich auch durch die jüngere Geschichte der Bundesrepublik: Sinnbildlich dafür stehen die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen 1992. Tagelang kam es zu Ausschreitungen und Angriffen auf Asylsuchende, viele von ihnen aus Rumänien geflohene Sinti und Roma. Die deutsche Polizei ließ den Mob nicht nur gewähren -nein- sie drangsalierte sogar Antifaschist*innen, die sich den Angreifern entgegenstellten. Und noch heute sind Sinti und Roma massiv von Antiziganismus betroffen: sie werden in unserem Bildungssystem diskriminiert und sind vielfach von antiziganistischen Anfeindungen ausgesetzt. Drei der 9 Opfer des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau im Februar 2020 sind Angehörige der Roma gewesen.
So wichtig ein Erinnern an die Verfolgung der Sinti und Roma durch den Nazismus ist, so notwendig ist es auch heute, dem Antiziganismus entgegenzutreten. Dass sich in Sachen Antifaschismus nicht auf den Staat verlassen werden kann, hat uns schon Esther Bejerano zu verstehen gegeben. Umso deutlich erkennt man diese Problematik, wenn man sich mit der strukturellen Verfolgung der Sinti und Roma, auch nach dem Ende des NS-Regimes auseinandersetzt. Denn ein „Nie wieder“ kann nur ein „Nie wieder“ sein, wenn wir jeden Tag dafür eintreten, dass es nie wieder geschehe.
An der Stelle wollen wir euch noch auf die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus hinweisen, die nun seit über 2 Jahren antiziganistische Vorfälle in Deutschland dokumentiert und Betroffene unterstützt. Meldet antiziganistische Vorfälle, wenn ihr sie beobachtet und informiert euch bei der MIA über den alltäglichen Antiziganismus dem Sinti und Roma ausgesetzt sind.